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19. November 2025

 

Bild: Teilnehmer der Studienreise nach Estland vor der Matek-Zentrale in Pärnu

 

 

 

 

 

Estlands Weg als Vorreiter des Seriellen Sanierens

Franziska Reute (IWO e. V.)

 

In ganz Europa gibt es ihn, trotzdem wird er vor allem Osteuropa, dem Baltikum und Zentralasien zugeschrieben. Der Plattenbau, typenweise in Serie hergestellt, ist ein vermeintliches Relikt aus Sowjetzeiten. Vermeintlich? Auch heute wird Wohnraum wieder in Serie hergestellt und gebaut. Es trägt jetzt andere Namen wie Fertighaus, Fertigbauweise, modulares oder serielles Bauen.

 

In Osteuropa findet man tatsächlich sehr viele Plattenbauten. Sie sind in schlechtem Zustand und nicht immer klaren Eigentumsverhältnissen. Mehr als 90% dieser Häuser sind in Wohneigentümergemeinschaften organisiert oder eben in Wohneigentümerhand und nicht organisiert. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Wohnungen privatisiert, von den Regierungen, Städten und Kommunen an die Bewohner verschenkt. Ihnen, die ihre Wohnungen oftmals selbst bewohnen, fehlt es häufig an Bewusstsein für ihr Eigentum. Reparaturen werden in der eigenen Wohnung durchgeführt, aber Gemeinschaftsflächen nicht bedacht und die Notwendigkeit des eigenen Handelns für Reparatur- und Sanierungsarbeiten im und am Haus nicht gesehen. Das notwendige Handeln bleibt aus.

 

Wohneigentümergemeinschaften sind behäbiger in ihren Entscheidungen, es braucht Abstimmungen und mehrheitliche Beschlüsse, bevor am und im Haus Maßnahmen durchgeführt werden können. Neben fehlenden Kapazitäten im Baugewerbe bremst das Sanierungen aus und verlangsamt und erschwert den Weg zur Klimaneutralität im Gebäudebereich, dem sich viele Länder verpflichtet haben.

 

Diesen beiden Hemmnissen stellt sich das Interreg Projekt RenoWave mit Partnern aus Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen und Deutschland. Im Rahmen des Projekts wurde ein Leitfaden entwickelt, wie Kommunen und Länder ihre Wohneigentümergemeinschaften bei erhaltenden und energetischen Sanierungsmaßnahmen unterstützen können, indem sie eine Institution schaffen, die sich der Problematik annimmt. Diese Institution kann als One-Stop-Shop fungieren, der Eigentümer zu Energieeffizienz am und im Gebäude berät, aber auch bei der Planung und Umsetzung von konkreten Maßnahmen unterstützen kann.

 

Für typenweise gebaute Häuser wie Plattenbauten machte der Projektpartner Initiative Wohnungswirtschaft Osteuropa (IWO) e. V. auf einen neuen Sanierungsansatz, das serielle Sanieren, aufmerksam. Es funktioniert nach dem Prinzip „Was in Serie gebaut wurde, kann auch seriell saniert werden“. Dieser Ansatz eignet sich generell für fast alle Häuser, aber am besten für in Serie erbaute oder Typenhäuser.

 

Im Rahmen der Projekte RenoWave und FELICITY II  fand im Oktober 2025 eine von IWO e. V. organisierte Studienreise nach Estland zum Thema Serielles Sanieren und Bauen und, damit einhergehend, Projektmanagement für Sanierungsprojekte in Mehrfamilienhäusern statt.

 

Innovation, Praxis und Perspektiven in der Gebäudesanierung

Estland ist Vorreiter beim seriellen Sanieren. In dem baltischen Land wurden bisher 50 Häuser nach diesem Prinzip saniert. Nirgends in Europa gibt es mehr abgeschlossene seriell sanierte Objekte und nirgends gibt es mehr Erfahrung mit diesem zukunftsweisenden Ansatz.

 

Ukrainische, schwedische, litauische und deutsche Vertreter von Kommunen und NGOs lernten das serielle Sanieren in Estland ganz genau kennen. Sie sahen und begingen in Tallinn und Tartu seriell sanierte Mehrfamilienhäuser, setzten sich im Detail mit diesem speziellen Sanierungsansatz und mit den estnischen Förderbedingungen von Sanierungen auseinander und besuchten das Werk von dem Hersteller Matek AS, in dem Paneelelemente für das serielle Sanieren hergestellt werden.

 

Schneller ans Ziel

Das serielle Sanieren sei eine sehr gute Möglichkeit, um die ehrgeizigen europäischen Klimaschutzziele für den Gebäudebereich fristgerecht zu erreichen, so Martin Kikas, Leiter der Energieagentur Tartu TREA. Ein Vorteil seien die Skalierbarkeit durch die industrielle Vorfertigung der Elemente vor allem für typengleiche Häuser, die kurze Baustellenzeit, der geringere Bedarf an Fachkräften und die Möglichkeit, dass Bewohner während der Sanierung verhältnismäßig uneingeschränkt in ihren Wohnungen verbleiben können. 

 

Eine serielle Sanierung ist eine energetische Sanierung mit vorgefertigten Fassaden- und Dachelementen. Die Außenhülle des Gebäudes wird mit einem 3D-Laserscan exakt vermessen. Auf dieser Grundlage erfolgen die Planung und dann auch die Herstellung der Elemente. Sie werden in einem Werk hergestellt, zur Baustelle transportiert und dort an der Außenhülle des Gebäudes mit Hilfe eines Krans und zwei Arbeitern befestigt. Diese Elemente erfüllen die Funktionen der Dämmung der Außenhülle und der Erneuerung der Fenster in einem Zug. Zusätzlich kann weitere Gebäudetechnik in ihnen untergebracht und damit erneuert werden, wie beispielsweise Lüftungsrohre für ein Belüftungssystem oder Heiz- und Wasserrohre. Auf Dach- als auch Wandelementen können Solarpaneele installiert werden, Balkone und Fahrstühle können ebenfalls an den Paneelen angebracht werden.

 

Der passende Zustand der Außenhülle wird im Vorhinein durch eine Testbohrung und Materialanalyse bestätigt. Nur, wenn der Beton noch stark genug und nicht porös ist, können die Elemente sicher angebracht werden. Sie werden mit starken Ankern an der Außenhülle befestigt und miteinander verbunden. Das System folgt dem Baukastenprinzip, als würde man eine zweite Hülle um das Haus bauen. Die Elemente sind aus Holz, sind dadurch leichter, nachhaltig und recycelbar. Die Größe der Elemente ist dem Gebäude angepasst, liegt aber etwa bei 9mx2,5-3m. Die Dicke des Elements hängt davon ab, wie viel Isolierung das Gebäude braucht und ob weitere Systeme wie Leitungen enthalten sind. Die Automatisierung des Herstellungsprozesses spart Zeit ein und auch die Baustellenzeit ist extrem verkürzt im Vergleich zu üblichen Sanierungsverfahren. Ein Element kann in 15-20 Minuten angebracht werden, sodass die Zeit für die gesamte Anbringung der Elemente für ein Mehrfamilienhaus mit beispielsweise 80 Wohneinheiten und 3500m² Wohnfläche im Idealfall so nur 6-8 Wochen betragen kann.

 

Chance erkannt, politische Richtung angepasst

Wie Ivo Jaanisoo vom Klimaministerium Estlands darlegt, hat die estnische Regierung das Potenzial schnell erkannt und die Fördersysteme und -töpfe für Sanierungen angepasst. Wurden von 2003-2007 nur 11Mio Euro Zuschüsse für einzelne Sanierungsmaßnahmen gewährt, sind es seit 2021 mehr als 350Mio Euro für Komplettsanierungen wie auch die serielle Sanierung. Das Kreditsystem habe sich stabilisiert und der Staat stehe für Ausfälle der Banken bei Sanierungskrediten ein.

 

Warum sich gerade in Estland diese industriellen Strukturen für die serielle Sanierung herausgebildet haben, ist für Annely Känd von Woodhouse Estonia klar. Zum Einen habe es bereits zu Sowjetzeiten eine große Produktion von Platten für die in Serie gebauten Mehrfamilienhäuser gegeben und somit sei die Umwandlung dieses Industriezweigs logisch, da bekannt und im Bewusstsein der Menschen. Zum Anderen sei der Rohstoff Holz in Estland gut und stabil verfügbar. Auch die Weiterentwicklung von diesem speziellen industriellen Ansatz mit großer digitaler Komponente spreche aus dem Herzen und Selbstverständnis der Esten, die bekanntermaßen digitale Vorreiter in Europa sind. 

 

Nachbarschaft als Motor der Sanierung

Besonderes Augenmerk liege bei solchen komplexen Methoden wie dem seriellen Sanieren aber auch auf sozialen Faktoren, so Anu Sarnet vom Verband der Wohnungseigentümergemeinschaften Estlands EKÜL. Mehrfamilienhäuser sind in Estland größtenteils in Wohnungseigentümergemeinschaften organisiert. In ihnen müssen Maßnahmen am und im Haus stets von einer Mehrheit der Eigentümer beschlossen werden. Erfolgreiche Kommunikation sei hierbei sei hierbei das A und O. Die Ausgewogenheit von guten technischen Erklärungen und Feingefühl und Verständnis für die persönliche Situation der einzelnen Eigentümer sei essenziell, um einen Beschluss für eine Komplettsanierung herbeizuführen.

 

Einen sozial innovativen, da integrierten Ansatz trifft man in Tallinn: das Projekt SOFTacademy, das auf nachbarschaftsbasierte Sanierung setzt. Ziel ist es, mehrere typengleiche Gebäude gemeinsam zu renovieren und gleichzeitig die Höfe zwischen den Häusern aufzuwerten. Die Stadt übernimmt die Hofgestaltung, wenn die Gebäude umfassend saniert werden. Das ist ein Anreiz für kollektives Handeln. Gleichzeitig sollen durch die gemeinsame Sanierung von vier benachbarten Gebäuden Kosten eingespart werden und durch serielle Sanierungen die Planung und der Sanierungsprozess an sich verkürzt werden.

 

Das Projekt integriert kreative Beteiligungsformate wie Workshops, Hackathons, Malwettbewerbe und Fokusgruppen mit Bewohnern der Häuser. Es werden nicht nur technische Aspekte, sondern auch soziale und gestalterische Fragen diskutiert, etwa die Farbgestaltung, die Integration von Kunst oder die Parkplatznutzung. Die Herausforderungen seien vielfältig, sagt Kadri Auväärt, Projektmanagerin vom SOFTacademy Projekt, von rechtlichen Fragen über sozialen Spannungen bis hin zu mangelndem Vertrauen in städtische Prozesse.

 

Hoch hinaus

In Tartu zeigt Annika Urbas, Projektmanagerin bei TREA, ein Testgebäude im Plattenbauviertel am Stadtrand. Dort gibt es 22 typenähnliche Gebäude, die mehr als fünf Geschosse haben. Auch diese sollen bald und schnell saniert werden. Der serielle Ansatz für diese typenähnlichen Gebäude würde sich anbieten und ist gewollt. In dem Forschungsprojekt oPEN Lab der Energieagentur Tartu wird nun an einem mit ursprünglich denselben Platten erbauten fünfgeschossigen Gebäude in ebenjenem Viertel getestet, ob andere Verankerungsmöglichkeiten für die Paneele in der ursprünglichen Hauswand es erlauben, auch mehr als Fünfgeschosser auf diese Weise zu sanieren. Aufgrund der Statik und der Gewichte der Elemente ist es bislang technisch nicht möglich, höhere Gebäude als Fünfgeschosser seriell zu sanieren. Das soll sich bald ändern.

 

Hoch hinaus in europäische Gefilde ist seit einigen Jahren auch der älteste estnische Hersteller von Holzpaneelen Matek AS aus Pärnu unterwegs. Begeistert spricht Kaarel Väer, Vertriebsleiter von Matek, über die positive Entwicklung seines Unternehmens. Referenzen in Estland, Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark, Litauen und aktuell Deutschland pflastern den Erfolgsweg des Unternehmens. Sie sanieren nicht nur seriell, sie bauen auch in Serie. Sie bauen modular. 4,2m Breite, 12m Länge und 3m Höhe dürfen die Module maximal messen, sonst können sie nicht transportiert werden. In der Fabrikhalle erscheint alles sehr simpel und klar so wie die Idee an sich. Es ist aufgeräumt, Arbeiter schrauben und messen, jeder an seinem Paneel, jede Hand weiß, was zu tun ist. Die Paneele für die Sanierungen stehen in Reih und Glied nebeneinander. In einer anderen Halle stehen mehrere Baumodule nebeneinander, wie Legobausteine werden sie später auf der Baustelle von einem Kran auf- und nebeneinandergestapelt, dann miteinander verbunden und in Windeseile werden sie zu einem großen Haus geworden sein.

 

Lösung für Estland, Chance für Europa

Die Schnelligkeit des Ansatzes von seriellem Sanieren und Bauen ist eine große Chance für Europa. Gebäudebestände könnten in den Mitgliedsländern schneller, effizienter und dann auch kostengünstiger saniert werden, sollte der Ansatz in die Massenproduktion gehen. Wohnraummangel könnte so effektiv und schnell behoben werden. Fachkräftemangel könnte für die Baubranche umgangen werden, da durch die Vorfertigung von Elementen und Modulen weniger Gewerke auf den Baustellen beschäftigt wären. Baustellenzeiten würden verkürzt, die Bauarbeiten vor Ort wären weniger stark vom Wetter abhängig und könnten im Sommer wie Winter durchgeführt werden.

 

Für die Ukraine könnte der serielle Ansatz der Schlüssel zum erfolgreichen Wiederaufbau sein. Serielle Wandelemente eignen sich nicht nur für die Sanierung vom eh schon in die Jahre gekommenen sowjetischen Gebäudebestand, der seine Lebensdauer bereits überschritten hat, sondern auch für die Instandsetzung von beschädigten Gebäuden. Mit der Holzmodulbauweise können neue Wohngebäude schnell und nicht aufwendig errichtet werden.

 

Es gibt in Zusammenarbeit mit der Firma Matek AS ein erstes Pilotvorhaben in Nizhyn im Chernihiv Oblast im Norden der Ukraine. Es wird zeigen, ob sich der Ansatz in der Ukraine etablieren kann. Wichtig dafür seien neben einem ersten erfolgreichen Pilotprojekt stabile Fördermöglichkeiten, internationale Investitionen, aber auch Veränderungen in der Politik, so Knut Höller, Geschäftsführer von IWO e.V..

 

Die Projektpartner von RenoWave, allem voran der deutsche IWO e.V. und der schwedische Landkreis Dalarna werden sich auch nach Projektschluss im Dezember 2025 weiterhin für den ukrainischen Gebäudesektor einsetzen. Serielle Sanierung und gutes Projektmanagement für Sanierungsprojekte können ein wichtiger Hebel beim Wiederaufbau des Landes für mehr und besseres Wohnen sein. Gute Praxisbeispiele zu sehen, um diese Erfahrungen und Möglichkeiten durch andere Wege aufzuzeigen, war Anliegen und Ziel der Studienreise im Oktober nach Estland für Projektpartner aus der Ukraine und dem Ostseeraum. Ein großer Dank gilt den Fördergebern Interreg Baltic Sea Region und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ GmbH für die Ermöglichung der Reise.

 


Das Projekt „One-Stop-Shop extended model to increase the multi-apartment building stock renovation in the BSR“ (RenoWave) wird mit Unterstützung des EU-Förderprogramms Interreg Baltic Sea Region 2021–2027 durchgeführt. Das Projekt entwickelt ein erweitertes One-Stop-Shop-Modell, das speziell für Mehrfamilienhäuser in den Ländern der Ostseeregion konzipiert ist. Partnerländer sind Schweden, Finnland, Polen, Deutschland, Litauen, Lettland und Estland.

Das Projekt FELICITY II wird von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH in Zusammenarbeit mit der Europäischen Investitionsbank und mit Unterstützung der deutschen Bundesregierung im Rahmen der Internationalen Klimaschutzinitiative (IKI) durchgeführt.

 


 

Projektmitarbeiterin
Franziska Reute
EU- Baltikum, Polen | Kommunikation

Bei Fragen wenden Sie sich gerne an Franziska Reute.